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Lebensnahes Erzähltalent
Aus dem Nachruf in der NZZ vom 1. 10. 1984
(Karl Fehr, Professor für Literatur der deutschen Schweiz,
Universität Zürich)
... Seine Stärke lag in seiner schlichten, klaren, oft von Humor
durchwirkten Darstellungsgabe, mit der er vorerst seine Jugendjahre zu
Gersau umkreiste, und er hat bis ins Alter das Staunen ob den kleinen
Wundern und Wirrnissen des Daseins nie verlernt.
... Eine Reise durch Russland und Sibirien nach Ostasien, die Camenzind
in das Missionsfeld der Bethlehemer in der Mandschurei führte,
reichte ihm den Stoff für "Ein Stubenhocker fährt nach Asien",
fesselnd und unterhaltsam geschriebene Reiseerinnerungen eines
naiv-präzisen Beobachters. Noch eindrücklicher ist wohl der
Roman "Da-Kai", der das Los der christlichen Familien in den damals von
den Japanern beherrschten und von kommunistischen Umtrieben bereits
aufgewühlten mandschurischen Provinzen schildert. Das Werk ist mit
grosser Anschaulichkeit und erstaunlicher Einfühlsamkeit
geschrieben.
... Neben den Lebensbildern und Kindheitserinnerungen fand die andere,
die heimische Welt, wohl in "Schiffmeister Balz", dem historischen Roman
aus der Franzosenzeit, ihren gültigsten Ausdruck. Und fast
überall ist der versteckte Humor und eine nie verletzende
gütige Lebensironie mit im Spiel.
... Josef Maria Camenzinds Schaffen wurde zweimal durch die
Schweizerische Schillerstiftung und im Jahre 1971 durch den
Literaturpreis der Innerschweiz gewürdigt. Er selbst aber hat aus
seinem schriftstellerischen Werk nicht viel Wesens gemacht. Als ein
gütiger, tief demütiger, bescheidener, von einer echten,
beinahe naiv zu nennenden Frömmigkeit getragener Mensch verwaltete
er seine nicht unbeträchtlichen poetischen Gaben. Er hat mit seinem
ungekünstelten und lebensnahen Erzähltalent, dem sich auch
lyrische Gaben zugesellten, eine stille, aber treue und weit verbreitete
Lesergemeinde um sich versammelt.
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Etwas vom Geschichten-Erzählen
von Josef Maria Camenzind, Immensee
Auch das Geschichten Erzählen will gelernt sein. Meine Lehrjahre
im Erzählen begannen lange vor den Primarschuljahren bei unserer
Hausmeisterin, der guten Mutter Lena, unter deren Obhut wir Buben
standen, während unsere Mutter in der Fabrik arbeitete. Die Lena
war eine Meistererzählerin, der die Geschichten nie ausgingen. Zu
ihr gestellte sich als Lehrmeister der Nachbar, der Amerika-Onkel, der
auf der Bank vor dem Garten oder unten am See, von Kindern umgeben,
Gesetzlein um Gesetzlein seiner erlebnisreichen Wanderfahrten zum Besten
gab. Und zu diesen beiden gesellten sich feierabends die erwachsenen
Menschen des Wehri Quartiers: Nauenknechte, Fabrikler, alte
Hotelangestellte, Handwerker and Hausierer, Grossväter und
Grossmütter. Und sie alle huben zu erzählen an, einmal dieser,
einmal jener, von vergangenen Tagen, von längst verstorbenen
Menschen, von Einheimischen und Fremden, von himmlischen und weltlichen
Dingen, von Tod und Leben, Reichtum und Armut, Hass und Liebe, Erfolg
und Misserfolg. Wie drückten wir Kinder uns doch an diesen
köstlichen Erzählabenden hinein in die warme
Geschütztheit der erfahrenen, lebenskundigen Menschen, bettelten
trotz Herzklopfen und Gänsehaut immer wieder um neue Geschichten.
... Hatte mein Bruder eine besonders gelungene oder spannende
Geschichte der Lena, des Amerikaners oder der Nachbarsame verpasst,
versuchte ich sie ihm, abends vor dem Einschlafen in der Bubenkammer mit
eigenen Worten zu erzählen. Einmal verstieg ich mich dazu, eine
solche Geschichte als Freiaufsatz im Schulheft niederzuschreiben. Der
Herr Lehrer las sie, während ich glutblutroten Gesichtes dasass,
schmunzelnd der Klasse vor. Ob das der Anfang meines Geschichten
Schreibens war? Zum Erlauschten, das sich später zu
Erzählungen gestaltete, gesellte sich der wirkliche, eigene, frohe
und schmerzliche Alltag des armen und doch glücklichen
Fabriklerbuben.
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